Auch wenn meine Tochter ihre Zahnlücke von einem Crash auf dem Trampolin hat (was ihrem Stolz darüber freilich keinen Abbruch tut), so ist doch unverkennbar, dass sie sich mit ihren fünf Jahren anschickt, ein richtiges Vorschulkind zu sein.
Sie ist in unserer ersten Jurte und unserem initialen Jurtenjahr geboren. Und wäre auch fast schon dort „vom Storche erdacht“ worden. So lange haben wir schon zu tun mit diesen mongolischen Rundzelten.
Die erste ganz reelle Begegnung mit einer Jurte lässt sich genau datieren: Der zweite Geburtstag ihres großen Bruders – seines Zeichens heute Zweitklässler. Schneeschmelze in den Emmentaler Voralpen 2014.
Unserer beider Kinder Großvater schweizerseits – letztes Frühjahr leider tragisch in einer Lawine verstorben – hatte uns infiziert mit einer Idee, mit der wir uns bei all unseren alternativen Gedanken bis zu diesem Punkt kein einziges Mal umgetrieben hatten: Er wünschte sich damals eine quasi Bauaufsicht für die in der Tenne zu renovierende Wohnung – dachte an eine Jurte – und veränderte damit vermutlich unser restliches Leben.
Wir suchten kurz Jurten zur Miete, verwarfen, und fanden ein einziges letztes Exemplar im Schweizer Jurtendorf. Parallel zu zwei oder drei anderen Interessenten. First comes, first serves, hieß es. Tags darauf dringen wir also bis in diesen allerletzten Winkel des Emmentals vor. Hier plakatiert nurmehr rechts außen. Höfe, Kühe, skeptische Blicke auf das deutsche Kennzeichen – tiefste Deutschschweiz eben. Niemand würde hier ein Jurtendorf erwarten. Wir erklimmen trotzdem gemäß Wegbeschreibung den vorgelagerten Hügel und treten ein in die in sich geschlossene Rodungsinsel am Hang. Eine veritable Klause. (Wohl auch in ihrer Entlegenheit erschließt sich die Möglichkeit zur Koexistenz mit dem Umfeld.)
Viel wichtiger aber sind die Schritte, die dann folgen. Klein sind die Stufen hinauf in die Gästejurte für uns, groß für unser Geburtstagskind. Und folgenreich für die ganze Familie.
Groß erscheinen die 5m Durchmesser.
Runde Räume wirken weiter. Der Geruch von Holz und Wolle. Darin allein drei Schlafstätten und ein Ofen. Das Ambiente zieht in uns ein, wie Lasur in den frisch verlegten Boden. Nach einer der ersten durchschlafenen Nächte der letzten 730 Tage verlassen wir die Jurte dementsprechend imprägniert. Und zu allem bereit.
Wir brechen mit unserer Divise uns von jedwedem Produkt, das von Schweizer Händen veredelt wurde, aus wirtschaftlichem Überlebensinstinkt fern zu halten und geben den Zuschlag auf die üppig bepreiste letzte noch vorrätige Jurte.
Den Boden bauen wir selbst und schon zu meinem Geburtstag Ende Mai stellen wir auf und ziehen wir ein. Und es mag pathetisch klingen und ist doch profan – Wohnen vermag die essenzielle Substanz eines Lebens, das letztlich auch nur aus seiner Summe von im vornehmlich „häuslichen“ Kontext erlebten Augenblicken besteht, beinahe vollständig zu verändern. Die menschliche Psyche springt auf eine Reihe von „wohnungsbezogenen Triggern“ an, wie ein Schwamm auf Wasser: Licht, Atmungsaktivität, Wärme, Schutz bei gleichzeitiger Verbindung zur Außenwelt. Abwechslung.
Man ist, was man (be)wohnt.
Das Smarthome verspricht so total wie nur irgendwie möglich Konstanz, Komfort und Kontrolle. (Für i.d.R. den totalen Kredit.) Eine Jurte (ent)hält vor allem (Er)leben und von allen oben genannten Faktoren ein Übermaß. Regen wird zum akustischen Streicheln, Wind erwirbt eine Wellengestalt, der Schnee darin einen Körper und die Wärme, solange das eben entfachte Feuer im Ofen sie noch nicht gibt, einen Leib: Den deiner Frau und deiner Kinder.
Das Weltall ist kein Ort. Versuche dies zu vergessen und mithilfe von fossilen Energieträgern zu verdrängen, halte ich für feige und würdelos.
There’s no coziness on a dead planet.
Aber wir sind nicht in eine Jurte gezogen, um unseren Fußabdruck zu verkleinern. Unser Fußabdruck hat sich verkleinert, weil wir in eine Jurte gezogen sind. Zusammen mit ein paar anderen Veränderungen in etwa um den Faktor drei.
Geschenkt – es sind ja nur wir drei – und trotzdem ist das Leben im Einklang mit den Selbstheilungskräften unseres Ökosystems jeden Tag von neuem ein Geschenk.
Paartherapeuten sagen: „Man muss die Liebe täglich neu erfinden.“ Gaia ist da weniger kleinlich und schenkt sie einfach jeden Tag von neuem aus. Je offener man lebt und wohnt, desto mehr bekommt man ab.
Wir fühlen uns geradezu begossen. (Gesegnet wäre auch ein Wort, das aus alter Ideologie heraus zu uns hin überdauert und das so immer noch jeder versteht.)
Zunächst schaffen wir uns Hühner an, die unsere Reste essen und sogar die Töpfe (vor)putzen und dafür Eier legen (The Art of the Deal). Bis November bade ich im Fluss und etwas davor schenkt uns Jeanne ein neues Familienoberhaupt (um es familienpolitisch etwas unkorrekt auszudrücken). Problem sind nur die Daunenbetten für Neugeborene. Die gibt es nämlich nur auf dem Schwarzmarkt – das Kind könnte ersticken vor lauter Wärme. Eines jeden Lesers Fantasie sei es überlassen, sich zu überlegen, ob wir unsere Tochter eher frieren ließen oder uns über das Gesetz? hinwegsetzten.
In der Mongolei sagt man Jurtenkindern ein resolutes Immunsystem nach. Krank sein ist bis heute auf jeden Fall keine ihrer Stärken. (Aber es ist statistisch natürlich nicht möglich bei nur einem Kind einzelne kausale Faktoren aus dem Konzert der nicht beachteten Erziehungsempfehlungen zu isolieren um ihnen auf diesem Wege Aussagekraft zu entreißen.)
Der Winter wird noch schöner als der Sommer – nur viel, viel kälter. Denn unsere Jurte ist zwar super, aber zu ihrem stolzen Preis gesellt sich ein weiteres Problem: Der Heiz. Eigentlich ist an Jurten alles ökologisch zauberhaft (wie es meine Kinder ausdrücken würden), außer (in unserem Fall) die Dämmung und der damit verbundene Heizbedarf. Wir schaffen es mit gut 3 Ster Buchenholz, aber es ist auch immer wieder oft echt zapfig.
Honig gibt es morgens streichzart nur nach zehn Minuten Ofenrohr.
Ansonsten schauen wir durch die Kuppel in die Sterne und träumen davon, eines Tages eine ganze Jurte selbst zu bauen.